Raum und Sachkultur in der mittelalterlichen Stadt: Archäologische Forschungen in Tulln

In der archäologischen Forschung wurden in den letzten Jahren Forschungsansätzen entwickelt, die methodische Erweiterungen bei der Beschäftigung mit Raumstrukturen und Fundmaterial angeregt haben. Die Architektursoziologie beschäftigt sich dabei mit der gebauten Umwelt und Gebäudeensembles, die Raumsoziologie definiertden Raum als relationales Gebilde auch in übergeordnetem Sinne. Fragen der Stadtentwicklung lassen sich anhand dieser Kategorien und Zusammenhängen neu interpretieren. Die über die Ethnologie und Kulturanthropologie angeregte Auseinandersetzung mit der materiellen Kultur untersucht Artefakte hinsichtlich einer Objektbiographie, der Bedeutung der Objekte für Produzenten und Nutzer, im Fokus stehen ferner die soziale und kulturelle Konnotation der Sachkultur.

Tulln, Hauptplatz: Übersicht der Grabungen 2008 (Foto: BDA)

Die niederösterreichische Stadt Tulln gehört aufgrund zahlreicher Grabungen seit den 1970er Jahren zu den am besten archäologisch dokumentierten Städten Österreichs, dabei wurden große Teile der römischen und mittelalterlichen Besiedlung erfasst. Die Grabungen ab 2005 lieferten zusätzliches Datenmaterial, das sich aufgrund seines Umfangs und guten Erhaltungszustandes ausgezeichnet als Ausgangspunkt für Fragestellungen zu Raum und Sachkultur eignen, hier sind große Teile der mittelalterlichen westlichen Vorstadt, der nahezu vollständige mittelalterliche Marktplatz und mehrere Parzellen des mittelalterlichen Stadtviertels südlich davon ergraben worden. Dabei angewendete modernste Grabungsmethoden erleichtern zudem den Zugang zum Material.

Tulln, alte Feuerwehrschule, Mittelalterlicher Töpferofen (Foto: BDA)

Durch die Auseinandersetzung mit den Kategorien „Raum“ und „Material“ in der mittelalterlichen Stadt können einzelne Bereiche der Stadt punktuell beleuchtet werden, größere Zusammenhänge aufgedeckt und die Stadtentwicklung systematisch untersucht werden. Als repräsentative Ausschnitte der großflächigen Stadtkerngrabungen wurden der mittelalterliche Marktplatz der Stadt (Grabung Hauptplatz) und ein Töpfereistandort in der mittelalterlichen Vorstadt (Grabungen Ehemalige Landesfeuerwehrschule und Schießstattgasse) gewählt. Beide lassen in hervorragender Weise die Bearbeitung unter den erwähnten methodischen Voraussetzungen zu, wobei die Bearbeitung des Marktplatzes mit Hilfe raumsoziologischer Aspekte die Relationen zum Stadtraum, zum Handelsraum und Produktionsraum in all seinen stadthistorischen und archäologisch auswertbaren Quellen und Forschungsansätzen aufzeigen kann. Fragen zur Bauweise auf dem Markt, zu funktionalen, herrschaftlich-ökonomischen und sozialen Gesichtspunkte sowie zu städtebaulichen Konzepten sollen im Zentrum der Forschungen stehen. Bei der Untersuchung des Töpfereistandortes wird mit den Methoden der „material culturestudies“ die Öfen und die Keramik hinsichtlich qualitativer und quantitativer Aspekte,  der technischen Entwicklungen im Mittelalter und zu sozialen Perspektiven der Produzenten wie der Konsumenten untersucht. So kann das Ziel des beantragten Forschungsprojektes, planmäßig von der mittelalterlichen Gesellschaft in Tulln durchgeführte Stadtentwicklungen, wie Stadterweiterungen, die Organisation und das Betreiben eines Marktes und anderer Produktionszentren zu untersuchen, erreicht werden.

Im Rahmen von zwei Dissertationen wird Ute Scholz Stadt und Raum am Beispiel des mittelalterlichen Marktplatzes von Tulln erforschen und Sandra Sabeditsch untersucht Produktion und Austausch anhand der Töpferöfen in Tulln.

Aktuelles

Im Februar 2015 wurde das Projekt in der Rubrik "Forschung Spezial" der Zeitung Der Standard vorgestellt. Der Artikel ist hier nachzulesen.